Alles altert, auf die eine oder andere Weise. Mit der Zeit beginnt alles zu verfallen, manche Dinge schneller als andere. Pflanzen können Hunderte von Jahren alt werden, während die maximale Lebensspanne eines Menschen 122 Jahre beträgt, und selbst das ist extrem selten. Wir können zwischen drei verschiedenen Alterungsmodalitäten unterscheiden: erfolgreiches Altern, normales Altern und pathologisches Altern. Die Alterung ist ein langsamer, komplexer Prozess, der bereits bei der Geburt beginnt, in manchen Fällen sogar noch früher. Er umfasst physiologische, psychologische und biologische Faktoren, die alle miteinander verwoben sind. Genau aus diesem Grund unterscheiden sich Alterung und Seneszenz bei jedem Menschen stark voneinander.
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Die „Alterung“ ist allgemein als eine oder mehrere funktionale Veränderungen definiert, die die Fähigkeit eines Objekts, einer Information oder eines Organismus zur Erfüllung ihrer Funktionen schrittweise verringern. Bei einem lebenden Organismus handelt es sich um einen natürlichen Prozess, der manchmal durch verschiedene Belastungen im Laufe des Lebens verstärkt wird, und dazu führt, dass der Organismus sein physiologisches Gleichgewicht (oder seine Homöostase) nicht mehr aufrechterhalten kann und letztendlich stirbt. Manche Pflanzen altern extrem langsam und werden mehrere hundert Jahre alt. Im Gegensatz dazu stehen kurzlebige Insekten, die nur wenige Stunden überleben. Zwischen diesen beiden Extremen situiert sich der Mensch, der nach derzeitigen Erkenntnissen maximal 122 Jahre alt werden kann (J. Calment, geboren am 21. Februar 1875, gestorben am 4. August 1997). Seit dem 17. Dezember 2012, dem Todestag der italienisch stämmigen Amerikanerin D. Manfredini, ist der älteste lebende Mensch der Japaner J. Kimura, geboren am 19. April 1897, der mittlerweile 115 Jahre alt ist. Er ist ausserdem der letzte noch lebende Mann, der vor 1900 das Licht der Welt erblickte.
Im eigentlichen Sinne beschreibt das Wort „Alterung“ lediglich den chronologischen Aspekt der vergehenden Zeit. In der Regel spricht man erst ab einem bestimmten Alter (dem „reifen“ Alter) von „Alterung“, bevor man zwischen dem 3. Alter (65 – 89), dem 4. Alter oder dem hohen Alter (> 90 Jahre) unterscheidet. Manchmal wird auch zwischen den jungen Alten (65 – 75 Jahre), den Alten (75 – 85 Jahre) und den alten Alten (über 85 Jahre) und/oder den Supercentenarian (über 100 Jahre) unterschieden.
Aus medizinischer Sicht sind die chronologischen Definitionen im Allgemeinen zweitrangig, man arbeitet vielmehr mit jenen, die die physiologische Reserve des Organismus berücksichtigen. Wenn man von den Folgen der Zeit für die Funktionsweise unseres Organismus spricht, sollte man den Begriff „Seneszenz“ verwenden.
Die Seneszenz ist ein komplexer, langsamer und schrittweiser Prozess, der bei der Geburt und für manche unserer Zellen sogar bereits im Mutterleib einsetzt. Sie impliziert verschiedene biologische, physiologische und psychologische Faktoren, die für einen kleinen Teil von der Genetik beeinflusst werden, und grösstenteils mit unserer Lebensgeschichte verbunden sind. Die enge Beziehung, die all diese Faktoren eint, sorgt dafür, dass der Alterungsprozess von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich verlaufen kann. Manche Menschen scheinen relativ widerstandsfähig gegen die Alterung zu sein (erfolgreiches Altern) und erfreuen sich selbst noch an ihrem 100. Geburtstag bester Gesundheit, andere haben eine kürzere Lebensdauer und/oder weniger Lebensqualität (pathologische Altern).
Die Seneszenz ist zwar eine natürliche und unumgängliche Phase unseres Lebenszyklus, darf jedoch nicht als langer Prozess der Abnutzung unseres Gewebes angesehen werden, der lediglich im Voranschreiten der Zeit begründet liegt, wie dies bei lebloser Materie der Fall ist. Bei manchen Arten lässt sich keine Alterung beobachten oder sie sind sogar in der Lage, ihren Alterungsprozess umzukehren und in den Larvenzustand zurückzukehren. Die Geschichte des Menschen zeigt, dass es ihm gelungen ist, die Grenzen, die ihm ursprünglich durch seine Alterung aufgezwungen wurden, deutlich zu überwinden.
Die Alterung beim Menschen
UNSERE LEBENSERWARTUNG STEIGT …
Wirft man einen Blick auf unsere jüngste Geschichte, so lässt sich feststellen, dass sich unsere Lebenserwartung aufgrund des Rückgangs der Sterblichkeit, aber vielleicht auch aufgrund unserer erhöhten Widerstandsfähigkeit gegen die Alterung, in nur einem Jahrhundert praktisch verdoppelt hat. Sie ist von weniger als 40 auf über 80 Jahre gestiegen. Im Schnitt haben wir alle 10 Jahre 2,5 Lebensjahre dazugewonnen. Diese zusätzliche Lebenszeit ist hauptsächlich auf folgende Faktoren zurückzuführen:
• der Verbesserung der medizinischen Betreuung während der Schwangerschaft sowie der Versorgung von Säuglingen, dem Fortschritt in Sachen Hygiene und Keimfreiheit, dem Kampf gegen Infektionen (Antibiotika und Impfungen), dem Fortschritt der Chirurgie und der Medizin;
• dem Rückgang der Beschwerlichkeit der Arbeit, der Einführung von bezahlten Urlaubstagen, der Verringerung der Arbeitszeit, dem Zugang zu medizinischer Behandlung und Bildung, dem Anstieg der Lebensqualität und dem Rückgang der extremen Armut sowie der damit verbundenen grossen Lebensmittelknappheit, dem Zugang der meisten Menschen zu bequemem Wohnraum (fliessendes Wasser, Strom, Heizung, Unterkunft);
• der Einführung von Verkehrssicherheitspolitiken, von Sicherheitsnormen in Unternehmen und Gebäuden, der Konservierung von Lebensmitteln durch Kälte, usw.
Selbstverständlich haben auch individuelle Faktoren eine wichtige Rolle bei der Erhöhung der Lebenserwartung gespielt. Die medizinische Information und das Bewusstsein für die Bedeutung von Prävention haben die Verhaltensweisen beeinflusst: Rückgang des Alkoholkonsums, Hygiene, Keimfreiheit, Bewegung, ausgewogene Ernährung, usw. Heute ist die Prävention von Risikofaktoren durch das Individuum das wirkungsvollste Mittel, um die Lebenserwartung in den entwickelten Ländern weiter zu steigern.
… UNSERE GESELLSCHAFT ALTERT
Gekoppelt mit einem Rückgang der Geburtenrate drückt sich diese höhere Lebenserwartung in beispiellosen strukturellen Veränderungen in unserer Gesellschaft aus, wie beispielsweise der historischen Umkehrung des Anteils junger Menschen unter fünf Jahre und Menschen über 65. In den vergangenen 50 Jahren hat sich die Anzahl der Menschen im Alter von 65 oder mehr verdreifacht. Demografische Projektionen legen nahe, dass dieser Teil der Bevölkerung bis 2025 – 2030 3,5 Mal schneller wachsen wird als die Bevölkerung im Allgemeinen. Heute ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Neugeborenes seinen 100. Geburtstag feiert, sehr hoch, wohingegen dies vor rund zwanzig Jahren noch eine Seltenheit war. Laut dem National Institute on Aging wird die Grenze von 4 Millionen Hundertjährigen voraussichtlich im Jahr 2050 erreicht, im Vergleich zu knapp 40’000 Hundertjährigen im Jahr 1990.
Der beträchtliche Anstieg der Hundertjährigen erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass einige von ihnen ein noch höheres Alter erreichen, auf natürliche Weise. So lässt sich seit kurzem das Phänomen der „Supercentenarian“ beobachten. Dabei handelt es sich um Menschen, die ihren 110. Geburtstag gefeiert oder gar überlebt haben. Theoretisch ist die Lebensdauer zwar biologisch begrenzt, im Moment ist die maximale Lebensdauer des Menschen jedoch noch unbekannt.
Durch eine Veränderungen der Umweltbedingungen und der biologischen Lebensbedingungen ist es dem Menschen im Laufe seiner Geschichte immer wieder gelungen, die Grenzen seiner Lebenszeit zu überwinden, ohne dass bisher bekannt ist, wie weit dies noch möglich ist. Obwohl diese Verlängerung des Lebens allen Gesellschaften grosse Vorteile bietet und von einer globalen Verbesserung der Gesundheit zeugt, so wirft diese in der Geschichte des Menschen beispiellose demografische Veränderung auch Fragen bezüglich der Qualität der gewonnenen Lebensjahre auf. Wir dürfen nicht verschweigen, dass das Älterwerden untrennbar mit einem Anstieg des Risikos für chronische Krankheiten wie Diabetes, neuro- oder kardiovaskulären Krankheiten, Krebs und neurodegenerativen Erkrankungen verbunden ist. Besteht demzufolge nicht Grund zu der Befürchtung, dass die aktuellen Fortschritte bei der Erhöhung der Lebenserwartung, und vor allem die zukünftigen Fortschritte, zu einer Verschlechterung des allgemeinen Gesundheitszustands der Bevölkerung führen werden?
… ABER NICHT IMMER GESUND
Lange nahm man an, dass die Erhöhung der Lebenserwartung mit einer Verbesserung der Gesundheit einhergeht. Heute scheint diese Annahme angesichts der bedeutenden Zunahme chronischer Krankheiten mit fortschreitendem Alter, die zwar zu Invalidität führen, aber nicht tödlich sind, widerlegt.
Die jüngsten Schätzungen unserer Lebensqualität im Alter, die auf der Grundlage internationaler Studien über eine lange Lebensdauer durchgeführt wurden, deuten darauf hin, dass die durchschnittliche Lebensdauer weiterhin steigt. Im Durchschnitt gewinnen wir jedes Jahr drei Lebensmonate hinzu. Bis in die 1990er-Jahre gingen die hinzugewonnenen Lebensjahre mit guter Gesundheit einher. Seitdem scheint die Erhöhung der Lebenserwartung jedoch von einer Zunahme der Behinderungen begleitet zu sein, die auf im Laufe des Lebens aufgetretene gesundheitliche Probleme zurückzuführen sind.
DIE VERSCHIEDENEN FORMEN DER ALTERUNG
Am Massstab der Bevölkerung betrachtet charakterisiert sich die Alterung wie oben beschrieben durch eine schrittweise Verringerung der funktionalen Kapazitäten und eine Zunahme des Risikos für chronische Krankheiten. Am Massstab des Individuums betrachtet sind allgemein drei Entwicklungsformen der Alterung anerkannt, denen verschiedene Lebenswege zugrunde liegen:
• Die „erfolgreiche“ Alterung, oder „successful ageing“, beschreibt das Älterwerden unter Beibehaltung eines hohen Leistungsniveaus sowie der funktionalen und kognitiven Kapazitäten.
• Die normale Alterung, oder „normal ageing“, ist mit Beeinträchtigungen der physiologischen Funktionen verbunden.
• Und die pathologische Alterung, oder „pathological ageing“, beschreibt eine Alterung, die von einer oder mehreren Krankheiten begleitet wird (Demenz, Depressionen, Bewegungsstörungen, Organversagen, usw.).
Hierbei muss jedoch bedacht werden, dass das Konzept der Alterung beim Individuum kein einheitlicher, zeitlich festgeschriebener Prozess ist, sondern dass es sich vielmehr um ein mehrdimensionales Phänomen handelt, das sowohl demografische, biologische und medizinische als auch aus soziologische, psychologische und wirtschaftliche Faktoren umfasst. Daher ist es angemessen, dieses vollumfänglich zu erfassen, bevor man dazu übergeht, Präventionsstrategien und wirkungsvolle Behandlungen und Überlegungen umzusetzen.
Warum altern wir?
SIND WIR GENETISCH ZUM ALTERN PROGRAMMIERT?
Die Geschwindigkeit, mit der Lebewesen altern, scheint stark von genetischen Faktoren abzuhängen, was von der Tatsache unterstützt wird, dass genetisch unterschiedliche Tierarten unterschiedlich lange leben. Ein Elefant kann 70 Jahre und älter werden, wohingegen eine Labormaus selten älter als zwei Jahre wird. Der Einfluss der Gene auf die Art und Weise, wie wir altern, wurde ebenfalls von einer Studie von Familien bestätigt, deren Verwandte ein hohes Alter erreicht haben, sowie von einer Studie zu „echten“ und „falschen“ Zwillingen. Im Rahmen eines Experiments wurde deutlich gezeigt, dass die Gene, die die Alterung beeinflussen, von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden können. So ermöglicht es die Kreuzung innerhalb von Fliegen- oder Insektenpopulationen, die für ihre lange Lebensdauer ausgewählt wurden, nach mehreren Generationen einen Stamm mit hoher Langlebigkeit zu erhalten.
Die evolutionären Theorien der Alterung legen nahe, dass der Alterungsprozess die Folge der natürlichen Selektion ist, und somit kein unweigerliches Ergebnis des „normalen Verschleisses“ des Individuums. Im Gegensatz zu der weitverbreiteten Annahme sind unsere Alterung und unser Tod nicht programmiert. In einem ungeschützten Umfeld mit natürlicher Selektion ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Vertreter der verschiedenen Arten an Altersschwäche sterben, sehr gering, da die alternden und somit geschwächten Spezies schnell eliminiert werden. Unser progressiver Verfall und unser Tod sind somit nicht pro grammiert, um den Wettbewerb mit unseren Nachkommen im Kampf um Nahrung und Lebensraum zu vermeiden. Der wahre Grund liegt anderswo in der Selektion unserer Gene im Zuge der Evolution.
Unter den verschiedenen Theorien, die über die genetische Regulierung der Alterung aufgestellt wurden, ist die „Disposable-Soma-Theorie“ (Theorie des Wegwerfkörpers) am weitesten verbreitet. Sie basiert auf den erforderlichen Kompromissen bei der Zuweisung der verfügbaren Energieressourcen für den Erhalt des Organismus und die Reproduktion. Nach dieser Theorie resultiert der Rückgang der Funktionen aus Schäden an Molekülen, Zellen und Gewebe, die vom Organismus nicht repariert werden. Diese sind auf die Prozesse des Lebens zurückzuführen und häufen sich mit zunehmendem Alter. Die Reparatur dieser Schäden kostet den Körper viele Energieressourcen. Folglich resultiert der Verschleissgrad des Körpers aus einer variablen Verteilung der Energieressourcen zwischen Erhalt, Reparatur und anderen konkurrierenden Aktivitäten wie Wachstum und Reproduktion. Die Theorie des Wegwerfkörpers postuliert, dass es sinnlos ist, einen Organismus nach dem Alter zu erhalten, das dieser vernünftigerweise in seinem normalen Umfeld erreichen kann. Anders gesagt, wenn Sterblichkeit im Umfeld erhöht ist, ist es weniger interessant, massiv in den Erhalt zu investieren (und somit die Lebenserwartung zu erhöhen), als vielmehr in schnelles Wachstum und Reproduktion.
UNTER DEM EINFLUSS DER GENE: JA, ABER NICHT NUR …
Während der vergangenen 20 Jahre haben Forscher über 50 Gene identifiziert, die am Alterungsprozess beteiligt sind. Unabhängig von der untersuchten Spezies (Bakterien, Hefepilze, Fliegen, Würmer, Säugetiere) liess sich ein hohes Mass an Homologie bei den Genen feststellen, die die Alterung regulieren, was auf universelle Mechanismen hinweist. Besonders interessant ist, dass diese Gene zum Grossteil an denselben Mechanismen beteiligt sind: Wachstum, Reproduktion, Widerstandsfähigkeit gegen biologischen Stress und Stoffwechselkontrolle, was bedeutet, dass die Zuweisung von Energieressourcen verschiedene Aufgaben hat. So ist es nicht die Alterung selbst, die genetisch programmiert zu sein scheint, sondern vielmehr die Fähigkeit eines Organismus, die Schnelligkeit seines Verfalls zu verändern, um sich an die Umgebungsbedingungen anzupassen.
In der Natur werden die Energiereserven bei günstigen Umgebungsbedingungen und Nahrung im Überfluss also hauptsächlich für das Wachstum und die Reproduktion verwendet. Diese Strategie wird wiederum mit einer relativen Vernachlässigung der Aktivitäten zur Widerstandsfähigkeit gegen Stress und zur Reparatur in Verbindung gebracht. Und führt in der Regel zu einer Verringerung der Lebensdauer. Umgekehrt, wenn Nahrung rar ist, werden die Energiereserven im Wesentlichen für ein Überlebensprogramm des Organismus mobilisiert, auf Kosten des Wachstums und der Reproduktion der Spezies. Die Lebensdauer verlängert sich, bis die Umgebungsbedingungen wieder günstig sind und die Reproduktion erneut ermöglichen.
Im Zuge der Evolution wurden die Gene, die an der Reproduktion beteiligt sind, wahrscheinlich als günstige Gene ausgewählt, und sie scheinen eine zentrale Rolle bei der Regulierung des Überlebens zu spielen. So ist es zum Teil auf diesen Grund zurückzuführen, dass bei allen Tierarten eine enge Verbindung zwischen Langlebigkeit und Reproduktionsalter besteht: eine späte Reproduktion geht in der Regel auch mit einer längeren Lebenszeit einher und umgekehrt.
Wie altern wir?
DIE JUGEND: DAS RICHTIGE GLEICHGEWICHT ZWISCHEN VERFALL UND REPARATUR
Man muss sich den menschlichen Organismus als dynamisches System vorstellen, in dem ein instabiles Gleichgewicht zwischen Verfall und Reparatur herrscht. So zeichnet sich die Jugend durch ein Gleichgewicht zwischen der Intensität der für manche Zellkomponenten schädlichen biochemischen Prozesse einerseits und der Effizienz der Erhaltungs- und Reparatursysteme andererseits aus, mit denen eben diese Zellen ausgestattet sind. Der Alterungsprozess kommt somit einer Unterbrechung dieses Gleichgewichts gleich. Die Erhaltungs- und Reparaturmechanismen sind vom Ausmass des molekularen und zellulären Verfalls stark überfordert.
DIE SENESZENZ: EINE ANSAMMLUNG VON DEFIZITEN
Aus biologischer Sicht erscheint die Seneszenz auf den ersten Blick wie eine molekulare Alterung. Wir altern, weil die Moleküle, aus denen wir bestehen (Proteine, Lipide, Nukleinsäuren), schrittweise beschädigt werden. Aufgrund dieser molekularen Veränderung werden bestimmte wesentliche biochemische Reaktionen verändert und gefährden so die Funktionsweise unserer Zellen. Diese Veränderung des Zellstoffwechsels verursacht wiederum Störungen bei der Funktionsweise der Organe und der grossen physiologischen Systeme, was den globalen Verfall und die Entstehung von Krankheiten nach sich zieht und letzen Endes zum Tod führt.
Die am weitesten akzeptierte Definition beschreibt die Alterung als Rückgang der physiologischen Reserven, die zwar das Funktionieren des Organismus in stabilem Zustand ermöglicht, sich jedoch durch eine mangelnde Anpassungsfähigkeit des Organismus ausdrückt, wenn dieser mit sogenannten Stressereignissen konfrontiert ist. So können unausgewogene Ernährung, die Entwicklung chronischer oder ernsthafter Krankheiten, physische und/oder psychische Traumata aber auch verschiedene ökologische und soziale Faktoren eine synergistische Wirkung haben und diesen Prozess beschleunigen. Manche dieser untrennbar mit der Seneszenz verbundenen und/oder an dieser beteiligten Mechanismen sind jedoch in gewissem Mass umkehrbar und per Definition potenziell veränderbar.
Die Schuldigen: freie Radikale und Glukose
Freie Radikale sind grösstenteils Moleküle, die aus dem Sauerstoff entstehen, den wir atmen. Diese aus Sauerstoff aktivierten Formen werden bei den zahlreichen chemischen Reaktionen, die für die normale Funktionsweise unseres Organismus wesentlich sind, unvermeidbar produziert. Fast alle freien Radikale (95 %) werden in den „Energiekraftwerken“ unserer Zellen namens Mitochondrien produziert. Bei den freien Radikalen handelt es sich um äusserst instabile Moleküle, die potenziell gefährlich für den Organismus sind. Sie reagieren sehr stark auf andere biologische Moleküle wie Proteine, Lipide, Kohlenhydrate und DNA, und können die Stoffwechselfunktionen sowie die Strukturen dieser Substanzen irreversibel schädigen. So konnte beispielsweise errechnet werden, dass jedes in unseren Zellen enthaltene DNA-Molekül täglich 10’000 oxidativen Angriffen ausgesetzt ist.
Manche Zucker wie Glukose galten bis in die 1970er-Jahre als biologisch unschädlich. Tatsächlich reagieren diese Zucker jedoch mit den Aminosäuren, aus denen unsere Proteine bestehen, und fördern die Entstehung anormaler Verbindungen zwischen den Molekülen, die nicht nur die Struktur der Proteine verändern, sondern auch deren Funktion massgeblich stören. Diese Prozesse sind das Ergebnis einer relativ langsamen chemischen Reaktion namens Glykation, die dazu führt, dass im Organismus schrittweise Glykationsendprodukte produziert werden, die für den Organismus hochgradig gefährlich sind. Diese Produkte sammeln sich mit zunehmendem Alter an, insbesondere bei Diabetes, und tragen zur Entstehung zahlreicher Krankheiten bei.
Unsere Zellen sind von Natur aus mit einem Abwehrmechanismus ausgestattet, der die Schädlichkeit von freien Radikalen und Glykationsprodukten verringert. Enzyme mit komplizierten Namen (Superoxid-Dismutase, Katalase, Glutathionperoxidase, etc.) und diverse synthetisierte Moleküle (Glutathion, Alpha-Liponsäure, etc.) können koordiniert wirken, um die oxidative Reaktion zu verhindern, und zur Neutralisierung der freien Radikale beitragen. Leider sind diese verschiedenen Akteure selbst empfindlich für die Wirkung der freien Radikale und der Glykationsprodukte, und ihre Effizienz nimmt im Laufe der Zeit ab und führt zu molekularen Schäden, die nicht repariert werden. Die Seneszenz kann somit, zumindest teilweise, zu einer schrittweisen Unfähigkeit des Organismus führen, den glyco-oxidativen Stress zu bewältigen.
Die Zellbatterien entladen sich
Das Mitochondrium ist der einzige Energieerzeuger unserer Zellen. Die Mitochondrien befinden sich im Zytoplasma jeder Zelle und können mit „Batterien“ verglichen werden, die die nötige Energie für das Funktionieren des Organismus produzieren, speichern und verteilen. Die Mitochondrien verwenden 80 % des Sauerstoffs, den wir einatmen, um hochenergische Moleküle herzustellen, die von der Zelle direkt verwendet werden können.
Das Mitochondrium besitzt seine eigene DNA. Diese DNA verändert sich durch bestimmte degenerative Erkrankungen, die mit dem Älterwerden verbunden sind (insbesondere Alzheimer- und Parkinson-Krankheit). Diese Beobachtung hat schnell zu der Vermutung geführt, dass das Mitochondrium, und insbesondere seine DNA, eine Rolle beim Alterungsprozess spielt, und die Türen zu neuen Forschungsrichtungen eröffnet. Die Mitochondrien sind ständig freien Radikalen ausgesetzt, was die Fähigkeit dieser Organellen, Energie zu produzieren, massgeblich verändert, und zwar ab dem Alter von 50 Jahren. Wie es scheint, ist die DNA der Mitochondrien zehn Mal empfindlicher für die Wirkung der freien Radikale als die Zell-DNA. Die so ausgelösten Mutationen fördern Fehlfunktionen in der Maschinerie der Mitochondrien. Der Rückgang der Energieproduktion drückt sich anfangs in einer zellulären Fehlfunktion aus. Anschliessend, wenn eine bestimmte Energieproduktionsschwelle unterschritten wird, führt ein „Selbstmordprogramm“ der Zellen namens Apoptose zum Absterben und zur Eliminierung der funktionsuntüchtig gewordenen Zelle. So lässt sich aufgrund der molekularen Veränderungen im Zuge der Alterung eine flächendeckende Störung der Zellfunktion feststellen sowie eine schrittweise Abnahme der aktiven Zellen.
Sind wir so alt wie unsere Telomere?
Telomere sind repetitive DNA-Sequenzen, die sich am Ende der Chromosomen befinden, welche sie schützen und so zum Erhalt der Integrität des genetischen Materials beitragen. Bei den meisten Zellen verkürzen sich diese Telomere bei jeder Zellteilung. Wenn das kritische Minimum erreicht wird, das heisst, wenn das Ende der Chromosomen vollständig abgetragen wurde, kann sich die Zelle nicht mehr teilen und die Seneszenz tritt ein. Theoretisch könnte diese schrittweise Verkürzung der Telomere am Alterungsprozess beteiligt sein, da sie die Zellteilung verhindert. Es stimmt, dass bei sehr alten Menschen entnommene Zellen deutlich kürzere Telomere aufweisen als Zellproben von jungen Menschen. Die Restlänge dieser Telomere ermöglicht jedoch noch zahlreiche Zellteilungen, die die erforderliche Anzahl für den Rest des Lebens deutlich überschreiten.
Manche Zellen mit grossem Erneuerungspotenzial, wie beispielsweise Stammzellen, sind mit einem Enzymkomplex namens Telomerase ausgestattet, dessen Rolle darin besteht, das durch die sukzessiven Zellteilungen verbrauchte Ende der Chromosomen wiederaufzubauen. Im Laufe des Lebens lässt sich ein progressiver Rückgang der TelomeraseAktivität feststellen, so dass dieses Enzymdefizit für die Alterung verantwortlich gemacht wurde. Bei Versuchen, in denen das Telomerase-Gen bei genetisch modifizierten Mäusen ausgeschaltet wurde, konnte jedoch keine beschleunigte Alterung festgestellt werden. Bei den Krankheiten, die bei mehreren Generationen dieser „Gen-Knockout“-Tiere ohne Telomerase-Gen beobachtet wurden, handelte es sich hauptsächlich um gastrointestinale Blutungen, die Zellen der gastrointestinalen Schleimwände wurden jedoch intensiv und schnell erneuert.
Schlussfolgerung
Letztendlich kann die Alterung als Zusammenspiel der strukturellen und funktionalen Veränderungen unseres Organismus beschrieben werden, die eintreten, sobald dieser vollständig entwickelt ist, das heisst, sobald das Wachstum von Organen und Skelett abgeschlossen ist und die sexuelle Reife erreicht wurde. Unser Organismus und die Elemente, aus denen er besteht, altern jedoch allesamt unterschiedlich und unterschiedlich schnell. Manche Menschen scheinen äusserst resistent gehen die Alterung zu sein, andere fallen einer schnellen Alterung zum Opfer und sterben viel zu früh. Diese Heterogenität lässt sich zweifellos durch unsere genetische Veranlagung erklären, aber auch und vor allem durch den individuellen Lebenswandel und die individuellen Verhaltensweisen, die das Gesundheitskapital vergeuden oder umgekehrt bewahren und stärken können. Studien zeigen, dass die Schnelligkeit unseres physiologischen Verfalls zu einem Drittel unseren Genen zuzuschreiben ist und zu zwei Dritteln unserem Lebenswandel. Auch wenn es im Moment schwierig erscheint, mit der Vererbung verbundene Risikofaktoren zu beeinflussen, so ist es andererseits möglich, die Risikofaktoren in Verbindung mit gesundheitsschädlichen Verhaltensweise zu ändern. Rauchen, übermässiger Alkoholkonsum, Drogen, Bewegungsmangel, schlechte Ernährungsgewohnheiten (zu viel Süsses, zu viele gesättigte tierische Fette, usw.) verstärken und beschleunigen den Verfall unseres Organismus. Altersprävention beginnt somit mit der Korrektur von Risikoverhalten. Die grossen Fortschritte, die jüngst beim Verständnis der biologischen Mechanismen gemacht wurden, die unserer Alterung zugrunde liegen, öffnen neue Wege für die Entwicklung therapeutischer Strategien zur Verlangsamung des physiologischen Verfalls, der mit dem zunehmenden Alter verbunden ist, sowie der Erhaltung der Gesundheit bis zum Tod.
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